Die Gründung einer Widerstandsgruppe
Im Frühjahr 1939 konnte Hans als Mitglied einer Studentenkompanie mit
dem Medizinstudium in München beginnen, im Sommer 1940 machte er als
Sanitätsfeldwebel den Frankreichfeldzug mit, von Juli bis Oktober 1942
war er zum Sanitätsdienst an der Ostfront abgestellt. Es waren diese
Kriegserfahrungen, besonders der Vernichtungsfeldzug von SS und Teilen
der Wehrmacht im Osten, die ihm vollends die Augen über das NS-System
öffneten.
Kaum weniger bedeutsam war aber auch der Freundeskreis, den
er in München kennen lernte: u. a. die Mitstudenten Christoph Probst,
Alexander Schmorell, der Saarländer Willi Graf, Traute Lafrenz, der
Musikwissenschaftler und Philosophieprofessor Kurt Huber, der Architekt
Eickemeyer, der Buchhändler Söhngen. Man traf sich in Weinstuben,
Cafés, zu Hause, im Atelier Eickemeyer und suchte in Büchern und
Gesprächen nach Orientierung. Dabei waren die Bücher, die sie
interessierten, kaum in Buchläden zu kaufen oder in Bibliotheken
auszuleihen. Sie fanden sie im Antiquariat oder auch unter dem
Ladentisch von Söhngen. Besonders wichtig wurden die Franzosen des sog.
"Renouveau Catholique": Paul Claudel, der in seinem "Seidenen Schuh"
allen Völkern, Rassen und Hautfarben gleichen Wert zuerkennt, Bernanos,
Maritain, Bloy, die eine Erneuerung des Glaubens von den Ursprüngen her
anstrebten. Aber auch persönliche Kontakte zu kritischen Philosophen
wie Alfred von Martin, Josef Furtmeier, Theodor Haecker und
andererseits die Lektüre von Autoren der Vergangenheit wie Dostojewski,
Kierkegaard, Thomas von Aquin und Augustinus spielten eine Rolle.
All
dies führte die jungen Leute in Richtung eines gelebten Christentums
und einer freiheitlichen Staatsauffassung, mit Sicherung der Rechte des
einzelnen, mit Gewaltenteilung als Grundprinzip der
Verfassungskonstruktion, die in so offenem Widerspruch zu den
tatsächlichen Verhältnissen stand. Und der Gedanke, Widerstand leisten
zu müssen, wurde immer drängender. Als Hans im Frühjahr 1942 in
hektographierter Form Predigten des Münsteraner Bischofs Clemens August
Graf von Galen zugeschickt bekam (in denen dieser die Gewaltmaßnahmen
gegen die Kirche geißelte und das Euthanasieprogramm der Nazis scharf
verurteilte), war für ihn die Form des Widerstands gefunden: in
Flugblättern musste man sich an die Bevölkerung wenden, sie aufklären
und wachrütteln.
Sophies Weg in den Widerstand
Auch Sophie beschäftigte sich in dieser Zeit, kurz vor und nach dem
Abitur, intensiv mit philosophischen und theologischen Fragen und fand
ähnlich wie ihr Bruder zu einem sehr persönlich gestimmten Christentum.
Die Freundschaft mit dem vier Jahre älteren Berufsoffizier Fritz
Hartnagel, der zwar auch in Distanz zum NS-System stand, im übrigen
aber alles Militärische sehr unkritisch sah, war für sie eine ständige
Herausforderung. In der Hoffnung, dem Reichsarbeitsdienst zu entgehen,
leistete Sophie nach dem Abitur im Frühjahr 1940 eine
Kindergärtnerinnenausbildung ab; dennoch wurde sie 1941
dienstverpflichtet und anschließend noch zum Kriegshilfsdienst
herangezogen. Erst im Mai 1942 konnte sie ihr Studium (Philosophie und
Biologie) an der Universität München beginnen.
Ihr Bruder Hans machte
sie mit seinem Freundeskreis bekannt, und Sophie beteiligte sich,
sobald das erste Flugblatt der "Weißen Rose" erschienen und sie in die
Widerstandstätigkeit eingeweiht war, ohne Einschränkung an den
Aktivitäten der Gruppe.
Sophie Scholl : 1938 an
der Iller - 1942 zu Hause
- 1940 bei einer Wanderung
Die Flugblätter
Das erste Flugblatt stimmt in seinem Eingangssatz bereits den
Grundtenor aller künftigen Ausführungen an: "Nichts ist eines
Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer
verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique
regieren zu lassen." Kultur- und staatsphilosophische Überlegungen
spielen eine große Rolle, auch in den folgenden Flugblättern. Aber
zunehmend werden auch konkrete Sachverhalte angesprochen: im zweiten
die Ermordung der Juden und Polen, im dritten wird - selbst für manche
der Gruppe nur schwer nachvollziehbar - zur Sabotage als wichtigem
Mittel des Widerstandes aufgerufen, im fünften werden erste
Zukunftsvorstellungen entwickelt: Beseitigung von Imperialismus und
preußischem Militarismus, föderalistische Neuordnung Deutschlands und
Europas ...
Der Name "Weiße Rose", unter dem die Flugblätter
erschienen, war nach den Ausführungen Hans Scholls vor dem
Volksgerichtshof eher zufällig gewählt, und zwar nach dem gleichnamigen
Roman B. Travens. Neben der Herstellung dieser Flugblätter, die
verteilt, per Post verschickt, auf gefahrvolle Weise durch Kuriere u.
a. nach Frankfurt, Berlin, Freiburg, Saarbrücken, Salzburg und Wien
gebracht wurden, über den Widerständler Helmuth James Graf von Moltke
gelangte sogar ein Exemplar nach England, beschrieben die Widerständler
auch Münchner Mauern mit Parolen ("Freiheit", "Nieder mit Hitler") und
versuchten, Kontakt zu anderen Widerstandskreisen herzustellen, auch
Widerstandskreisen ganz anderer gesellschaftlicher Couleur. Der
wichtigste Versuch in dieser Richtung war ein Treffen von Hans Scholl
und Alexander Schmorell in Chemnitz mit Falk von Harnack, dem Bruder
des damals bereits inhaftierten Mitglieds der "Roten Kapelle", Arvid
von Harnack.
Vervielfältigungsmaschine:
Mit einer Maschine wie dieser wurden die Flugblätter der
Widerstandsgruppe "Weiße Rose" gedruckt.
Weitere Erfahrungen mit dem System
Eine Unterbrechung erfuhr die Tätigkeit der Gruppe durch die schon
genannte Einberufung von Hans Scholl, Alexander Schmorell und Willi
Graf zum Sanitätsdienst in Russland. Sophie war während dieser Zeit zu
Hause, wo sie in einem Rüstungsbetrieb eingesetzt war und die
menschenunwürdige Behandlung der Zwangsarbeiter mit eigenen Augen sah;
von einer Diakonissin aus Schwäbisch-Hall, die bei der Mutter zu Besuch
war, erfuhr sie zur selben Zeit, dass das Euthanasieprogramm der Nazis
noch immer weiterlief. Anfang August 1942 stand auch ihr Vater vor
Gericht, weil er unvorsichtigerweise vor einer Angestellten Hitler als
"Gottesgeißel" bezeichnet hatte - alles Eindrücke, die auch bei Sophie
letzte Zweifel an der Berechtigung und der Notwendigkeit des
Widerstandes ausräumten.
Das Ende
Hans, Sophie, wie alle Mitglieder der Gruppe, waren sich der Gefahr, in
der sie schwebten, jederzeit bewusst. Am 18.2.1943 legten Hans und
Sophie vor dem Ende einer Vorlesung Flugblätter in den Gängen der
Universität aus und warfen den Rest vom obersten Stockwerk in die
Eingangshalle. Sie wurden dabei vom Hausmeister beobachtet, inmitten
der Studenten, die die Vorlesungsräume verließen, festgehalten und
zunächst dem Universitätsrektor, dann der Gestapo übergeben. Als nach
Tag- und Nachtverhören und der Durchsuchung ihrer Wohnung ein Leugnen
nicht mehr möglich war, versuchten beide, möglichst alle Schuld allein
auf sich zu nehmen, um so ihre Freunde zu entlasten.
Die schon vier
Tage nach der Verhaftung anberaumte Gerichtsverhandlung vor dem
Volksgerichtshof - sie wurde von dem berüchtigten Roland Freisler
geleitet - war reine Farce. Nach kurzer Verhandlung wurden beide
zusammen mit Christoph Probst (der wenige Wochen zuvor Vater eines
dritten Kindes geworden war) zum Tode verurteilt und noch am gleichen
Tag durch das Fallbeil hingerichtet. Das selbe Schicksal ereilte in den
folgenden Monaten viele ihrer Freunde, u.a. Alexander Schmorell,
Professor Huber und Willi Graf.
Grab der Geschwister
Scholl auf dem Perlacher
Friedhof in München
Die Bedeutung des Widerstandes
Die letzten Aufzeichnungen Sophies lauten: "So ein herrlicher, sonniger
Tag, und ich soll gehen. Aber wie viele müssen heutzutage auf den
Schlachtfeldern sterben, wie viel junges, hoffnungsvolles Leben... Was
liegt an meinem Tod, wenn durch unser Handeln Tausende von Menschen
aufgerüttelt und geweckt werden." Sophies Hoffnungen haben sich damals
nicht erfüllt. Weder aktiver noch passiver Widerstand der Deutschen
brach das NS-System, sondern der Sieg der Alliierten. Dennoch war der
Widerstand nicht vergeblich. Ohne ihn (und den Widerstand anderer)
hätte es kein moralisches Fundament für den Neuanfang in Deutschland
gegeben, kein Fundament für die Neuordnung der Beziehungen zu den
Nachbarstaaten. Ohne ihn wäre die deutsche Geschichte an Vorbildern
ärmer.
Bernhard Planz
erstmals veröffentlicht im März 1993
in Ausgabe 1 von SIGNUM, der
Schulzeitung des "Geschwister-Scholl-Gymnasiums Lebach"